Am Ende einer Sackgasse in der Armstraße befand sich ein kleines bäuerliches Anwesen, in dem bis Ende der vierziger Jahre das Ehepaar Franz-Jakob und Barbara Weinig lebte. Während des letzten Krieges nahmen sie eine junge Verwandte namens Hilde auf, die in Mannheim gelebt hatte und dort ausgebombt worden war. Sie war Schneiderin und darüber hinaus musikalisch begabt, was ihr nun in der neuen Umgebung zu gute kommen sollte. Zwei Jahre nach Kriegsende lernte sie, auf der Suche nach einem Entwurf für ein neues Kleid, den eben aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassenen und in Distelhausen weilenden Hans Eiler kennen. Der, ebenfalls künstlerisch sehr begabt, zeichnete ihr einen Entwurf für ein festliches Kleid, das sie nähte und das ein Jahr später ihr Hochzeitskleid werden sollte, als sie dessen Zeichner heiratete. So kam Hans Eiler nach Dittigheim.
Geboren wurde Hans Eiler im Böhmerwald, wo schon sein Großvater als Elfenbeingraveur künstlerisches Potential in die Familie Eiler brachte, was sich schon sehr früh bei dem feingliedrigen und sensiblen Hans zeigen sollte. Seine musischen Talente zeigten sich in der Beherrschung von gleich mehreren Saiteninstrumenten, darüber hinaus entwickelte er eine ausgesprochene zeichnerische Fertigkeit, die ihm als Soldat an der Front, wie in den Gefangenenlagern in den USA und in England von Vorteil war, wo er seine künstlerische Ader in vielfältiger Weise, auch ganz profan als Friseur nutzen konnte. So schuf er in der Gefangenschaft ein grafisches Tagebuch, dessen Tuschezeichnungen in altmeisterlicher Qualität ein eindrucksvolles und empfindsames Bild von seinem dortigen Aufenthalt, aber auch seinem Gemütszustand und die Erinnerung an das verlorene Zuhause gaben. Phantasie und grafische Perfektion zeichnen auch den vom Kriegsgefangenenbuchverlag herausgegebenen Band von Grimms Märchen aus, den er mit detailreichen Initialen und Zeichnungen ausstattete. Sie sollen sich später auch in liebevoll gestalteten Fotoalben der Familie Eiler wiederfinden, die er zu grafischen Kostbarkeiten in ornamentreicher Schrift und Farbzeichnung gestaltete.
Seinem ganzen Wesen nach verbargen sich in diesem eher unauffälligen und doch feinsinnigen Mann unterschiedlichste künstlerische Anlagen. In seiner kombinierten Wohn- und Friseurstube, er musste hier seinem Brotberuf nachgehen um die Familie ernähren zu können, entstanden eine Fülle von Meisterwerken: Zeichnungen, Aquarelle, Bühnenbilder und mit Hilfe seiner Frau Hilde Dekorationen für Theateraufführungen, die zunächst in der Engelwirtschaft, dann in der neuerbauten Turnhalle in Kooperation mit Musikmeister Paul Schubert von örtlichen Vereinen aufgeführt wurden. Die großflächigen, selbst in der Tagespresse für ihre realistische Qualität gelobten Dekorationen, Bildmotive und Kulissen machten auch in der Nachbarstadt Tauberbischofsheim auf sich aufmerksam, wo die dortige „Tauberbühne“ sich seiner Kulissen bediente, und auch das Schminken der einzelnen Masken ihm überließ. Und selbst bei den Aufführungen war das Ehepaar Eiler als Akteure in diversen Rollen beteiligt, meist mit der Gitarre und dem Klavier. Musik war schließlich seine zweite Leidenschaft, die er als Solist in den Aufführungen des „Musikrings“ mit einbrachte, sowie später in verschiedenen Musikgruppen wie den „Burgis“ oder den „Piccolo Stars“, während seine Frau Hilde Klavierstunden erteilte. Seine Begabung, Schrift als ästhetisches Kunstwerk darzustellen, hinterließ inner- und außerhalb des Ortes Spuren seines Könnens in Plakaten, Schildern und Wandbildern. Selbst den Gesichtern der Kinder im Dorf verlieh er eine künstlerische Note, wenn diese an Fasching zu ihm kamen, um sich als Cowboy, Indianer oder Clown schminken zu lassen.
Neben all diesen künstlerischen Aktivitäten ging er der Tätigkeit des Friseurs nach. In einer Ecke des Wohnzimmers richtete er sich am Fenster einen Frisiertisch ein und verschönerte von nun an die Haarpracht der Bevölkerung. Als Frisierstuhl diente u.a. auch der höhenverstellbare Klavierhocker – das Klavier dazu stand im Nebenraum. Auch in seinem Brotberuf wurde seine künstlerische Fertigkeit im Ort schnell bekannt, denn Hans Eiler bewies beim Haareschneiden nicht nur eine geschickte Hand, sondern auch stilistisches Vermögen, was sogar bei der eher pragmatisch nüchternen Landbevölkerung gut ankam, zumal seine Vergütung sehr moderat war. Mit der Devise „preiswert aber gut“ füllte er schnell sein Wohnzimmer mit Jung und Alt. Trotz dessen hatte Hans Eiler stets Kundschaft durch verunglückte Versuche, Haare selbst zu schneiden und musste so manchen Pony wieder begradigen. Viele Kunden kamen auch aus den umliegenden Ortschaften. So kamen z. B. die Hof Steinbacher, meist zu Fuß, auch gerne sonntags vor oder nach dem Kirchbesuch zum Haareschneiden und zum Rasieren. Dies übrigens bis zum Schluss klassisch als Nassrasur mit stets am Lederreimen abgezogenen Rasiermesser. Der guten Reaktionsfähigkeit des Frisörs ist es zu verdanken, dass der eine oder andere beim Einnicken während der Rasur keine Schnittwunde davontrug. In der behaglichen Atmosphäre auf dem Plüsch der Gründerzeitcouch und sonstigen Sitzmöbeln ging es besonders gegen Abend eng zu, und wenn das Essen einmal wegen großen Andrangs warten musste, hielt Hilde Eiler es auf dem gusseisernen Ofen in der Frisierstube warm. Hier gönnte man sich in der Wartezeit ein Schwätzchen, was der sonst schwer arbeitenden Landbevölkerung bei der Arbeit eher ungelegen kam. Damit übernahm die Eiler`sche Friseurstube auch eine soziale Aufgabe, die ansonsten die drei Wirtschaften im Ort erfüllten. Für die noch Wortkargeren bot Hans Eiler, was im Ort einmalig war und einer öffentlichen Leseeinrichtung gleichkam, abgesehen von der Pfarrbibliothek mit ihrer frommen Erbauungsliteratur, ein Sortiment an profanen Illustrierten und Heften an, welches die schillernde und turbulente weite Welt in die enge gute Stube brachte. So mancher Kunde nahm sich sogar nach dem Haarescheiden die Zeit, sich nochmals der Lektüre zu widmen.
Der Wandel der Zeit brachte auch neue stilistische Herausforderungen in der Haarmode, die Hans Eiler dank seiner künstlerischen Fertigkeiten bravourös meisterte. In dieser langen Zeit hatte sich auch die kombinierte Wohn- und Frisierstube gewandelt, in der Einrichtung, wie in der Praxis. Reichte in der Anfangszeit ein weißer Umhang um den Hals des Behandelten, der aber dank der Menge der Hälse nach einer Woche nicht mehr sein erstes Strahlen und vor allem seine Frische hatte, so erhielt später jeder seine eigene Halskrause aus Krepppapier beim Schneiden der Haare, die nicht mehr wie anfangs mit Handbetrieb, sondern dann elektrisch geschnitten wurden. Auch ein raffinierter Frisörstuhl wurde angeschafft, bei dem sogar die Sitzfläche mechanisch wendbar war, damit der nächste Kunde einen „frischen“ Platz hatte. Selbst die zugehörige Nackenstütze konnte mittels Endlospapier immer frisch bezogen werden. Bei aller Veränderung, eines blieb immer gleich: die freundlich-familiäre Atmosphäre bei der Familie Eiler und die feinsinnige Kunstfertigkeit in allem, was dieser Mann tat.
In dieser Zeit wurde meist von Hand geschnitten. Es ist anzunehmen, dass daher zudem die Arbeitszeit pro Frisur deutlich länger war als mit elektrischen Rasierapparat.
Frisör Rudolf Engert (1900-1960?) Abt-Brand-Straße
Für noch komfortableres Kommentieren bitte hier einloggen. Als registrierter Autor schreiben Sie mit Ihrem guten Namen und Ihre Kommentare sind sofort für alle sichtbar.
Schreiben Sie uns eine Nachricht oder eine E-Mail an info@hv-dittigheim.de Gerne erklären wir Ihnen unser Projekt.
Kommentieren Sie einen Beitrag. Einfach unter den betreffenden Artikel Ihre Ergänzung, Korrektur oder auch Frage eingeben!
Unterstützen Sie das Projekt als Autor, Redakteur, Fotograf oder mit Materialien aus Ihrem Fundus.
Wie lief ein Friseurbesuch ab?
Wie oft ging man zum Friseur?